So eine Zugfahrt spricht natürlich ein besonderes Publikum an und ist kein Alltagserlebnis. Es ist auch nicht unbedingt ein Familienevent, und so war es nicht verwunderlich, dass die Mehrheit der Fahrgäste weit über 60 Jahre alt war. Ich befand mich also mitten in einem Seniorenheim – aber diese Umgebung bietet Platz für die interessantesten Lebensgeschichten.
Und so hat sich meine Fahrt dann auch angefühlt: ein wenig wie unterwegs in einem “Spaceshipâ€, eine kleine Welt für sich, mit all diesen unterschiedlichen Menschen und ihren spannenden Geschichten.
Einige Stories, die mich von Toronto begleitet und am meisten beeindruckt haben:
Arleine & Jerry, das frisch in den Ruhestand getretene Paar aus der Nähe von Kingston bei Toronto. Sie waren auf dem Weg nach Jasper, um ihre Tochter zu besuchen.
Arleine war meine Bettnachbarin in der ersten Nacht. Ihr bekam die schlaflose Nacht allerdings viel schlechter als mir – und so sass sie mir dann auch ziemlich schnell am nächsten Morgen gegenüber, beklagte sich, versuchte ihren Mann zu bewegen, mit ihr den Schlafplatz zu tauschen, der ihr Jammern aber nicht ernst nahm. Und so kam sie zu mir und brach schliesslich vor lauter Ãœbermüdung in Tränen aus. Gemeinsam mit André, unserem Service-Verantwortlichen, konnte ich sie wieder beruhigen und ihren Mann dazu bringen, mit ihr das Bett zu tauschen. Von dem Moment an waren wir beste Freundinnen und Jerry und Arleine entpuppten sich als ein herzallerliebstes Ehepaar.
André, der für unseren Wagen als Service-Personal verantwortlich war, kam ursprünglich aus Winnipeg und war ein Schauspieler. Während des Sommers arbeitete er als Zugpersonal, um so seinen Unterhalt zu verdienen. Mit seinen französischen Wurzeln (durch ihn habe ich gelernt, dass die zweitgrösste französisch-sprachige kanadische Gemeinde in Winnipeg/ Manitoba lebt, bisher dachte ich immer, nur Quebec sei französisch-sprachig) war er ein absoluter Charmeur. Er war eine perfekter Unterhalter und brachte auch schliesslich unser Zugabteil zusammen zu einer nachmittäglichen Jamsession: da wurden die Gitarren ausgepackt und losgesungen.
Denn ich war nicht die einzige, die mit einer Gitarre reiste. Da war auch Rowena, ein asiatisches Mädchen aus Vancouver, die soeben ihr Kunststudium in Montreal beendet hatte und nun wieder auf dem Heimweg nach Vancouver war. Wir befanden uns also in einer ähnlichen Situation, beide auf Umzugsreise, beide eine künstlerische Adre, beide besessen von Musik. Wir entdeckten viele Gemeinsamkeiten und hatten nette Gespräche auf dieser Zugfahrt.
Chris, ein 63-jähriger Anwalt, befand sich ebenfalls in unserem Abteil. Er redetet pausenlos, hatte allerdings auch viele spannende Gesichten auf Lager – und war mit der erfahrenste Zugfahrer in unserem Waggon. Er fuhr regelmässig mit dem Zug; diesmal war er unterwegs in den Norden, nach Churchill. In Winnipeg, auf der Hälfte der Strecke, stieg er in einen anderen Zug um, um sich den Eisbären in Nordkanada zu nähern.
Phang kam ebenfalls aus China (Shanghai! Da konnte ich mir gleich Tipps für meinen Urlaub holen :)), lebte aber bereits seit 8 Jahren in Kanada. Er ist vor kurzem von Edmonton nach Montreal gezogen und war nun auf den Weg zurück zu seiner Mutter in Edmonton, um seine restlichen Gegenstände nach Montreal zu ziehen.
Dann gab es noch Rob, ein kanadischer Ex-Soldat, der mit seinen über 70 Jahren bereits zum 6. Mal die Zugfahrt durch Kanada machte, er startete sogar am östlichsten Zipfel, in Halifax, und war somit 2 Tage länger als ich im Zug unterwegs. Er lebt auf Vancouver Island und befand sich auf der Rückreise von seiner Urlaubstour. Er war ein herzallerliebster älterer Herr, wir hatten viel zu lachen und teilten uns einen Tisch beim Essen.
Und schliesslich traf ich auch auf Luke, der als Editor beim Fernsehen arbeitete (History Channel), ursprünglich aus London kommt, nun aber in New York lebt und diese Zugfahrt als Teil seines 6-wöchigen Urlaubs unternimmt. Er ist nebenbei auch ein begabter Künstler, der – Achtung – herrliche Miniaturzeichnungen auf Briefumschlägen alter Liebesbriefe zaubert und diese dann verkauft. Auch wir haben irgendwann unsere besondere Verbindung gefunden.
Ja, und so war diese Zugfahrt von den herrlichsten Geschichten, Erfahrungsberichten und gemeinsamen Erlebnissen gezeichnet – es war ein ganz besonderes Erlebnis und eine herrliche Art zu reisen. Wir wuchsen in den paar Tagen zu einer kleinen Familie zusammen und so fiel der Abschied gar nicht mal so leicht. Es wurden viele Email-Adressen udn Facebook-Verknüpfungen ausgetauscht.
Mein Reise-Erlebnis wird mich noch eine Weile begleiten, ich bin noch stark am verdauen von all den wunderschönen Bildern und Erfahrungen…