Ein verregnetes Wochenende kann manchmal Wunder wirken. Oder zumindest neue Einblicke bringen. Dieses Wochenende hat mir den Anstoss gegeben, mich wieder mehr mit Geschichte zu befassen, genauer: mit der Geschichte Kanadas. Und noch genauer: mit der Geschichte der ersten Bewohner hier in Kanada, der First Nations.
In dem “Museum of Vancouver” findet gerade eine Ausstellung statt zur Geschichte der Ureinwohner, die im Gebiet von Vancouver lebten und noch immer leben – der “City before the City”. Der Fokus lag dabei auf den Werkzeugen, den Traditionen – und vor allem: auf der Sprache. Denn die ist vom Aussterben bedroht.
In Kanada gibt es etwa 50 verschiedene Nationen der Ureinwohner (oder “Aboriginal people”, wie der übergreifende Begriff hier in Kanada lautet) – die sich wiederum in 3 grosse Gruppen unterteilen lassen: die First Nations (oder “Indians”), Métis (Mischlinge der Ureinwohner und europäischer Siedler) und Inuit (was wir als “Eskimos” bezeichnen).
Jede dieser Nationen hat ihre eigene Sprache (also gibt es ca. 50 verschiedene Ureinwohner-Sprachen). Und diese Sprachen verteilen sich auf die ca. 1.4 Millionen Aboriginal people, die heute noch in Kanada leben (etwa 4% der Bevölkerung).
Die Ureinwohner leben in der Regel in kleinen Gemeinden (in oder ausserhalb von Reservaten).
Das Wissen einer solchen Gemeinschaft, sprich die Traditionen, die Sprache, die Geschichten, werden vor allem mündlich übertragen. Das schriftliche Festhalten von Wissen entstand erst um 1940!Â
Und das war für mich erstmal schwer verständlich. Wenn die Kanadier hier über Europa sprechen, dann kommt immer sofort die Bewunderung für die Geschichte durch, all das Wissen und die geschichtlichen Spuren, die es überall in Europa zu sehen gibt. Wo ich mir dann immer denke: na, ihr habt ja auch ne Geschichte – und die fängt nicht erst im 15. Jahrhundert an mit den ersten Siedlern aus Europa. Wie arrogant ist das eigentlich, den Beginn eines Landes mit der Eroberung durch andere Völkerstämme zu definieren.
Je mehr ich in die Geschichte Kanada’s einsteige, desto eher verstehe ich aber auch, wo dieses Bild herkommt: dadurch, dass es keine schriftlichen Ãœberlieferungen der Anfangszeiten gab (die erste Besiedlung Kanada’s begann spätestens vor 12.000 Jahren), ist es natürlich schwer, hierzu etwas zu erzählen – und somit den Anfang zu bestimmen. Es gab schliesslich auch keinen Versuch der europäischen Siedler, sich an die Sprache der Ureinwohner anzupassen – wieso auch, man war ja toller, schlauer und stärker (tztztztz, ein Charakterzug, der sich in Nordamerika scheinbar bis heute durchgesetzt hat…). Die Ureinwohner eigneten sich dann die englische Sprache an – und somit verlief auch jegliche schriftliche Kommunikation seit der Besiedlung durch Europäer auf englisch.
Das verdeutlicht so stark die “Macht” der Schrift. Natürlich lässt sich die kanadische Geschichte in keinster Weise mit der europäischen Geschichte vergleichen – aber man muss sich einmal überlegen, was für uns alles verloren gegangen wäre, wenn es die Schrift nicht schon so früh gegeben hätte für so viele unserer Weltkulturen (die bisher ältesten Funde schriftlicher Symbole wurden auf ungefähr 6600 v. Chr. datiert). So viel Wissen, was bis heute wohl kaum erhalten worden wäre.
Und das ist genau das, was hier in Kanada passiert ist: die Ãœberlieferungen funktionierten innerhalb von den kleinen Ureinwohner-Gemeinden gut – aber sie waren nicht geschützt vor dem “Einbruch” der Europäer. Anfangs wurde zwar noch versucht, ein gutes Verhältnis mit den Ureinwohnern aufzubauen, schliesslich wollte man gute Handlungsbeziehungen aufbauen. Das alles funktionierte prima, bis dann mehr und mehr Einwanderer (sowohl aus Amerika wie auch von Europa) nach Kanada eindrangen – und plötzlich gab es Platzprobleme (ha, ich weiss, ein lustiges Bild bei diesem riesigen Land mit seiner nach wie vor geringen Bevölkerungsdichte (3,5/ km2) im Vergleich zu anderen Ländern (Beispiel Deutschland: 226,9/ km2). Und da waren die Ureinwohner, die sich gute Standorte für ein harmonisches Leben mit der Natur bewahrt hatten, im Weg. Und ab da gab es dann keinen Respekt mehr für “Geschichte” oder “Wissen”.
Der Niedergang der Ureinwohner fand sicherlich seinen Höhepunkt mit der Errichtung der “residential schools“:  Schuleinrichtungen, in die die Kinder der Ureinwohner “verschleppt” wurden, weit ab von ihrem eigentlichen zu Hause. Diese Schulen dienten dazu, Kinder zu “reinigen”, ihnen “die richtige Kultur” beizubringen, sie zu “integrieren” in die nun vorherrschende kanadische Kultur. Es ist nach wie vor ein sehr sensibles Thema hier in Kanada, eines, worüber auch im Geschichtsunterricht kaum gesprochen wird.
Somit hat man also schön versucht, jegliche Elemente der eigentlichen “Geschichte” von Kanada zu beseitigen, zu glätten – die Geschichte des Landes zu bestimmen und neu zu definieren. Hervorragend.
Heute sind eben viele der Ur-Sprachen vom Aussterben bedroht. Die Ausstellung im Museum fokussierte sich vor allem auf einen der Stämme, die direkt vor Vancouver leben, den Musqueams (People of the River Grass). Von den 1315 Menschen dieses Stammes gibt es noch 27, die ihre ursprüngliche Sprache (hÉ™nÌ“qÌ“É™minÌ“É™m) verstehen können – kein einziger von ihnen ist noch in der Lage, die Sprache fliessend zu sprechen.
Alles in allem ein irgendwie trauriges Bild. Gleichzeitig ist es aber auch schön zu sehen, wie sich Menschen hier zusammen tun, das Interesse für die Vergangenheit stärker wird und ein Aufeinanderzugehen passiert. Und es zeigt auch, wie langsam sich Geschichte schreibt. So vieles, was in der Vergangenheit passiert ist, liegt noch verschüttet, wird nicht in die Öffentlichkeit getragen (das wurde mir erst bewusst, als ich versucht habe, selbst mehr über Kanada’s Geschichte herauszufinden: man findet sehr viel über die Siedler, die Handlungsbeziehungen, die Gründung des Landes und die Entstehung der Städte – und selbst darüber weitestgehend nur “Heldengeschichten”. Aber man findest so gut wie nichts über die Geschichte und Entwicklung der Ureinwohner und ihrer Sicht der “Ãœbernahme” – das Wissen sammelt sich erst seit den letzten paar Jahren an.)
Da wird es noch einiges auszugraben geben für mich, es ist noch ein Stück Weg, um dieses Land besser verstehen zu lernen.