Oder: sind wir nicht alle “Ausländer”?
Wir hatten am Wochenende eine sehr interessante Begegnung. Angefangen hat alles an einem gemütlichen Samstag Morgen: ausschlafen, Hundespaziergang mit Kaffee in der Hand, Wohnung putzen und schliesslich: brunch. Wilson’s Freund kam vorbei und wir sind zusammen zu einem kleinen Cafe spaziert, um dort unser Frühstück zu geniessen. Etwas zu dünnen Kaffee mit leckeren Crepes.
Dann setzte sich ein Mann gegenüber von unserem Tisch in eine Ecke, machte eine kurze Bemerkung zu unserer Tischnachbarin (“Hey Puppe”), blieb aber ansonsten ruhig. Plötzlich verfiel er in schallendes Gelächter und wollte und wollte nicht aufhören. In Vancouver sind wir an Obdachlose und an sich wirr verhaltende Personen gewöhnt, man trifft sie mittlerweile an jeder Ecke. Sollten wir etwas tun?
Wir versuchten uns, auf unsere Gespräche zu fokussieren und ihn somit zu ignorieren. Dann stand er auf, stapfte schnurstracks auf die Theke im Cafe zu, steuerte an dem Service-Personal vorbei auf die nächste Tür zu. “Entschuldigung, was suchen Sie? Die Toilette ist um die Ecke.” Es verärgerte ihn offensichtlich, dass er korrigiert wurde und ihm gesagt wurde, wohin er gehen sollte. Aber er drehte sich schliesslich um, suchte die Toilettentür – die sich direkt bei unserem Tisch befand. Er riss die Tür auf und fiel wieder in schallendes Lachen. “Habt ihr schon mal so eine Toilette gesehen? Man, ist das ein Luxusstück. Kommt her, schaut es euch an!” Es fiel schwer, ihn jetzt noch zu ignorieren. Schliesslich wankte er auf unseren Tisch zu. “Ist was? Was guckt ihr denn so?”
Und dann trat er direkt neben unseren Freund, der von indischer Abstammung ist. “Was willst du? Das hier ist nicht dein Land. Hau ab!”
Zunächst versuchten wir ihn zu beschwichtigen, aber es wurde immer ungemütlicher. Wilson und sein Freund riefen beide unabhängig die Polizei – die uns allerdings nur riet, sich von ihm fortzubewegen.
Der Mann war Kanadier – und “First Nation”. Er beschimpfte nicht nur Wilson’s Freund, sondern machte die Runde: “Das ist nicht euer Land, ihr habt es uns gestohlen. Haut ab!” Kommunikationsversuche wurden abgeblockt. Er war offensichtlich betrunken. Und dennoch fühlte ich mit ihm – und mich beinahe etwas schuldig, wenn ich an die Geschichte denke von diesem Land. Denn ja, die “Übernahme” und Einwanderung verlief nicht friedlich und über die Jahre wurde viel zerstört. Aber wie kommen wir zu einem Gespräch zusammen? Und wie verhält man sich genau in so einer Situation? Ignorieren bewirkt mehr Wut, sich verteidigen bewirkt mehr Wut und beinahe eine Rechtfertigung, auf das Gespräch eingehen gibt nur Ausschlag für noch mehr Aggression…
Da trat ein anderer Mann an unseren Tisch, nicht sonderlich gross, aber kräftig gebaut. Er versuchte, den First Nation Mann zu beschwichtigen. Und dann tat er etwas interessantes. “Hey, magst du ein Glass Wasser? Lass uns zusammen etwas trinken.” Der First Nation Mann strahlte: “Ja, lass uns Wasser trinken, das ist gut.” Und dann beruhigte er sich, er schien etwas Vertrauen zu finden.
“Ich bin kein schlechter Mensch, alle behandeln mich aber so.”
“Magst du eine Zigarette?”
“Ja, das wäre toll.”
“Lass uns nach draussen gehen, wir suchen dir eine Zigarette.”
Kung-Fu. Die Kraft wird umgedreht, Magie wirkt, plötzlich waren alle ruhig.
5 Minuten später sahen wir einen Polizisten auf einem Fahrrad auf das Cafe zusteuern. Sie hatten es am Ende also doch noch geschafft, sich diesem Fall anzunehmen. Keine Ausnahme, mit Sicherheit – aber meine erste Erfahrung mit Aggressionen zwischen den unterschiedlichen Völkern in Kanada.
In der Umgebung von Vancouver leben mehrere vereinzelte Stämme in ihren “Territorium”; keine Reservate, aber sie haben nur einen kleinen Landbesitz. Viele dieser Stämme versuchen eine Zusammenarbeit mit Kanadiern aufzubauen; mittlerweile teilen sie viel über ihre Geschichte, machen Kunstausstellungen, lehren uns mehr und mehr über ihre Kultur.
Hier ist ein Beispiel von ihrer Geschichte, erzählt anhand des Salish Stammes, der an der Küste von Vancouver und Umgebung lebte.
Aber längst nicht alle fühlen sich eingegliedert oder akzeptiert – und akzeptieren umgekehrt nicht die Ungerechtigkeit, die die kanadische Geschichte schrieb.
Ein interessanter Einstieg in den Tag der mich motiviert, mehr über die Geschichte der First Nations zu lernen – der mir aber auch wieder einmal half zu reflektieren, wie man in schwierigen Situationen und mit schwierigen Menschen umgeht…