Meine Bergsteiger-Erlebnisse in Bolivien gehen weiter. Nach dieser unendlich anstrengenden Gipfelbesteigung und meiner kurzen Rast fuhren wir ins nächste Tal, zum Fusse des mächtigen Huayna Potosi. Auf unserem Weg kamen wir wieder an meinen Freunden, den Alpacas und den Lamas vorbei.
Wir erreichten am frühen Abend das Basislager, auf ca. 4700 Meter Höhe. Zum Glück mussten wir hier nichts weiter tun, als unsere Taschen aus dem Auto hieven und unsere Schlafsäcke auf unsere Schlafkojen auszurollen.
Das Basislager war sehr…”basic”, aber mehr brauchten wir nicht. Ein Plumpsklo im Hof, ein Bett, ein Dach über dem Kopf – und ein leckeres Abendessen. Wir waren alles k.O., dass wir, nachdem wir eine Kleinigkeit gegessen hatten, sofort ins Bett krabbelten.
Leider konnte ich auch hier nicht besonders gut schlafen, ich hatte noch immer mit der trockenen Luft zu kämpfen und fühlte eine ständige Atemnot.
Highcamp Huayna Potosi (5100 m)
Am nächsten Morgen ging es recht gemütlich zu. Wir frühstückten – und lernten eine neue bolivianische Köstlichkeit kennen: Api, das ist ein interessanter Sirup aus lila Maiskörnern. Dazu eine Art Donut, sehr lecker 🙂
Anschliessend packten wir unseren Rucksack mit den nötigsten Sachen für unsere Bergbesteigung zum “Highcamp”. Unser schwereres Gepäck – unsere Bergsteigerschuhe, Schlafsack, Kletterausrüstung – wurden von einheimischen Trägern mitgenommen. Das sind bewundernswerte Menschen: als Bolivianer sind sie nicht besonders gross gewachsen, sie tragen meist nur Sandalen, dazu Jogginghosen, T-Shirt und Daunenjacke. Zwischen 18 und 75 Jahren sind alle Altersgruppen vertreten. Die Träger schnappen sich dann ein grosses Tuch, verstauen alle Gegenstände darin, knoten es elegant zusammen und falten es über ihre Schultern. Damit rennen sie dann den Berg rauf – und ja, im Vergleich zu uns rennen sie tatsächlich. Während wir uns Schritt für Schritt ganz langsam nach oben kämpfen, laufen die Träger rauf und wieder runter.
Der Aufstieg zum Highcamp umfasste nur 400 Meter, mit tollem Ausblick auf den beindruckende Gipfel mit seinem breiten Gletscher. Auf 5100 Meter angekommen fühlte ich mich zwar ein wenig aus der Puste, aber alles in allem ziemlich gut. Die Aussicht war hervorragend hier.
Huayna Potosi ist ein sehr beliebtes Ziel bei Bergsteigern, dementsprechend belebt war der Aufstieg. Wir hatten das grosse Glück in einer kleinen Hütte zu übernachten, die wir für uns alleine hatten. Weil der Berg so beliebt war, gab es hier zahlreiche Hütten, die scheinbar verschiedenen Organisationen gehörten.
Die Gipfelbesteigung sollte am nächsten Tag (bzw. mitten in der Nacht) erfolgen. Mein erster 6000er. Ich war freudig erregt und gleichzeitig etwas nervös. So richtig erholt fühlte ich mich vom letzten Aufstieg noch nicht.
Huayna Potosi (6033 m)
Um Mitternacht mussten wir aufstehen – d.h. früh ins Bett. Nach einem kleinen Abendessen machten wir um 19 Uhr die Lichter aus und die Augen zu. Leider blieb es dann auch dabei für mich. Ich fand wieder einmal keinen Sekunde Schlaf. Man, ich will ausgeruht und fit sein für den Aufstieg!
Nach einigen Stunden pellten wir uns alle aus unseren Schlafsäcken und zogen stumm unsere Ausrüstung an. Für diesen Aufstieg lieh Peter mir seine extrem dicke Expeditions-Daunenjacke: wir würden eine ganze Weile über den Gletscher wandern, im Dunkel und ohne wärmende Sonne.
Ich fühlte mich stark genug und freute mich auf den Aufstieg.
Zunächst kletterten wir für ca. 40 Minuten über grössere Felsen bevor wir den Fuss des Gletschers erreichten. Hier befanden sich bereits zahlreiche Gruppen; es war ein hektisches Treiben, jeder zog seine Steigeisen an und formte sich zu Seilmannschaften. Es gab einige fröhliche und gut gelaunte Gruppen, andere wirkten ziemlich gestresst und nur darauf bedacht, die Ersten zu sein. Die Stimmung erinnerte ein wenig an den Beginn eines Wettkampfes – was mich ein wenig störte. Ich war doch hier nicht, um einen Rekord zu brechen! Ich will einfach nur die Berge geniessen.
Peter und ich formten wieder mit Cecilio ein Seilteam, Markus wurde von Jose geführt. Wir waren also zwei verschiedene Gruppen. Nachdem wir angeseilt und unsere Steigeisen trugen, ging es los: Schritt für Schritt über den Gletscher. Um uns herum nur die vielen Lichter der Stirnlampen.
Mein Kopf war ziemlich schnell sehr leer. Es ging nur um den nächsten Schritt, den nächsten Atemzug – und ab und zu um Wasser. Ich hatte mir diesmal vorgenommen, mehr zu trinken, damit ich nicht wieder in ein riesiges Energieloch fiel, wie beim letzten Aufstieg. Das bedeutet aber auch: wann immer ich trinken wollte, mussten Cecilio und Peter ebenfalls anhalten. Während der Trinkpause wurde man dann von den Gruppen hinter einem überholt – und musste anschliessend warten, bis man einen Platz fand, in dem man sich wieder einreihen konnte.
Es war ein riesig langer Menschenzug, der sich den Berg hinaufbewegte. Das Tempo wurde von den langsamsten bestimmt. Überholen war nicht so einfach möglich. Immer wieder gab es Stellen, die etwas technisch waren und schnell einen Stau verursachten. Da kühlte man schnell ab; ich war froh, dass ich Peters Daunenjacke trug!
Nach 5 Stunden – wir hatten gerade einmal 500 Meter geschafft und noch etwas weniger als die Hälfte vor uns – verliess mich die Motivation. Mir war seit Stunden übel – aber ich konnte mich nicht übergeben. Mein Hals war trocken, mein Kopf schmerzte. Vor mir eine endlose Reihe an Stirnlampen. Es war noch immer tiefschwarz. Wir hatten noch etwas über 300 Meter Aufstieg vor uns – und plötzlich kreiste nur noch die eine Frage in meinem Kopf: warum mache ich das hier?
Ich liebe die Berge. Aber nicht unbedingt, um Gipfel zu jagen. Ich liebe die Berge, weil sie mich wieder zurückholen, mir helfen, mich auf das Wesentliche zu konzentrieren – und weil man herrliche Ausblicke hat. Stundenlang in der Nacht zu wandern und dabei einfach nur einem Menschenzug zu folgen, um dann bei Sonnenaufgang total erschöpft auf einem Gipfel zu stehen, der vollgestopft mit Menschen ist und wo man den Ausblick kaum geniessen kann, weil man so energielos ist – das ist nicht das, was ich will.
Also sagte ich Cecilio, dass ich nicht mehr weiter konnte. Für ihn gab es keine Diskussion, wir drehten sofort um. Ich wollte Peter überreden, mit Mark und Jose auf den Gipfel zu gehen – was aber auch bedeutet, dass man das Seil wieder neu aufteilen musste, eine weitere Verzögerung. Peter drehte also auch mit um.
Ich fühlte mich elend. Nicht nur wegen der Höhe – sondern weil ich mein Ziel nicht erreicht hatte. Ich fühlte mich wie ein Versager und fraget mich mit jedem Schritt, ob ich nicht doch weiter hätte kämpfen sollen.
Als die Sonne endlich aufging (wir waren fast am Ende des Gletschers angelangt), kam wieder ein wenig positive Stimmung aus: was für ein schöner Gletscher!
Um 7 Uhr morgens waren wir wieder an unsere Hütte angelangt. Hier brach ich nun endgültig zusammen: heulend verkroch ich mich in meinen Schlafsack: ich hatte es nicht geschafft. Dabei waren dort so viele Menschen, davon ganz viele, die so wirkten, als ob sie noch nicht einmal ein Zehntel von meiner Erfahrung hatten (und besonders viel habe ich ja auch nicht), und es dennoch schafften. Wieso ich nicht?
Irgendwann übermannte mich der Schlaf und ich konnte mich etwas erholen.
Um 10 Uhr kam Mark zurück: er hatte es auf den Gipfel geschafft – und ich war extrem froh für ihn. Er hatte ebenfalls stark mit der Akklimatisation zu kämpfen, daher war es toll zu sehen, dass es ihm besser ging und er endlich das geniessen konnte, was hin hierher trieb.
Nach einigen Stunden packten wir alle unsere Sachen und marschierten wieder runter zum Basislager. Heute würden wir wieder nach La Paz fahren, wo wir den nächsten Tag zur Erholung hatten. Einfach nur nichts tun – und Wäsche waschen 🙂
Illumani (6200 m)
Der Tag in La Paz war fantastisch. Endlich wieder gut schlafen und besser atmen. Ich fühlte mich sehr erholt, als wir zwei Tage später wieder abgeholt wurden zu unserem nächsten (und meinem letzten) Gipfel fuhren: Illumani, auf knapp 6200 Meter gelegen.
Die Fahrt war ziemlich spannend, denn sie führte stundenlang über eine sehr schmale und sehr kurvige Strasse entlang. Hier waren wir wirklich im Nirgendwo.
Gegen 15 Uhr kamen wir am Basislager an (auf 4450 Metern). Dies war wieder eine ganz andere Unterkunft: hier gab es keine Hütte, es wurde einfach gezeltet. Jose und Cecilio bauten zuerst ein riesiges Küchenzelt auf, dann unsere Schlafzelte. Wir machten derweil einen kleinen Spaziergang, um die Umgebung zu erkunden. Es waren bereits etwa 10 andere Gruppen vor Ort.
Wir konnten unsere Augen nicht von dem tollen Berg abwenden: wow, was für ein schöner Berg. Wir versuchten, den genauen Aufstieg ausfindig zu machen, konnten aber keine klare Route erkennen. Wirklich schwierig sah der Berg jedoch nicht aus.
Am Abend assen wir alle zusammen im Küchenzelt und bewunderten den Sonnenuntergang. Dann ging es ab ins Zelt.
Am nächsten Morgen begrüssten uns die Lamas aus der Ferne. Wir spielten wieder das altbekannte Spiel: unsere Bergsteigerausrüstung wurde von Trägern transportiert, während wie unsere Rucksäcke packten und uns auf dem Weg zum Highcamp machten. 1000 Meter würden wir aufstiegen, rauf auf 5400 Meter.
Ich fühlte mich super: ich hatte recht gut geschlafen, fühlte mich erholt, frisch und fit. Es kann loooooosgehen!
Der Gletscher kam immer näher – obwohl er doch noch weit entfernt war. Eine traumhafte Gegend hier!
Als wir 5000 Meter Höhe erreichten, fühlte ich mich jedoch langsam immer schlapper. Es fiel mir wieder schwer, zu atmen, meine Schritte verlangsamten sich, der Aufstieg fühlte sich plötzlich endlos an.
Am späten Nachmittag erreichte ich dann das Highcamp. Unsere Zelte waren bereits aufgebaut, genau wie viele Zelte der anderen Gruppen. Es war nicht ganz so überfüllt wie am Huanya Potosi, aber doch gut besucht.
Ich fiel erschöpft ins Zelt – und fing an zu hyperventilieren. Dazu kam wieder dieses eklige Gefühl einer sehr dumpfen Übelkeit. Das änderte sich nach einer Stunde: plötzlich musste ich mich übergeben, schaffte es gerade noch, aus dem Zelt zu kriechen.
Plötzlich hörte ich eine vertraute Stimme: “Hey, können wir dir helfen? Brauchst du etwas gegen Übelkeit?” Da stand das österreichische Pärchen vor mir, welches wir an unserem ersten Gipfel getroffen hatten. Sie gaben mir eine Tablette gegen Übelkeit und ich fiel wieder erschöpft zurück ins Zelt.
Das wars dann wohl, war mein einziger Gedanke. In wenigen Stunden würde der Aufstieg auf den Illumani beginnen, aber ich war wirklich nicht in der Verfassung, weitere 1000 Meter zu besteigen. Ja, ich war enttäuscht – aber diesmal war ich viel zu k.O. und leer, um richtig traurig zu sein.
Mark fühlte sich ebenfalls nicht wohl. Und so war es nur Peter und Cecilio, die um Mitternacht aufstanden und sich auf den Weg zum Gipfel machten.
Jose, Mark und ich wachten um 7 Uhr auf, packten unsere Sachen und machten uns auf den Abstieg. Vorher sah ich mich noch einmal genau um: wow, was ein magischer Ort. Wir zelteten direkt am Fusse des Gletschers. In der Nacht hatte ich zahlreiche Lawinen gehört, die von benachbarten Gipfel herunterkamen. Dieser Ort war wirklich magisch, zugern würde ich hier einmal ganz oben stehen.
Der Abstieg verlief ziemlich rasch – und sobald ich unterhalb von 5000 Metern war, konnte ich auch wieder besser atmen. Mensch, dieses doofe 5000 Meter Marke! So schnell akklimatisiert sich mein Körper dann eben nicht.
Wir waren gegen 10 Uhr wieder am Basislager angekommen. Mark und ich ruhten uns noch ein wenig aus in der nun wärmenden Sonne. Um 13 Uhr kam Peter zurück: er hatte es ohne Probleme auf den Gipfel geschafft und ist in nur 11 Stunden mal eben 1000 Meter aufgestiegen und dann 2000 Meter runter (bis zum Basislager). Und sah noch nicht einmal ansatzweise erschöpft aus! Superman 🙂
Und damit war das Abenteuer Bolivien für mich beendet. Wir packten unsere Sachen zusammen und fuhren zurück nach La Paz.
Hier hatte ich noch einen Tag in der Stadt, bevor es zurück nach Kanada ging. Ich verlasse das Land mit gemischten Gefühlen: es ist unendlich schön, mit so vielen freundlichen und warmen Menschen, einer traumhaften Kulisse. Es gibt noch so viel mehr, was ich hier entdecken möchte. Aber ich fühle mich auch klein und nichtig. Keine der Berge waren wirklich kompliziert zu besteigen – und doch hat mein Körper nicht die Kraft dazu gehabt. Und es ist nicht nur eine körperliche Schwäche, die ich gefühlt habe, sondern auch eine mentale. Es braucht doch unheimlich viel Energie und Kraft, um Berge zu besteigen.
Aber Bolivien hat mir auch wieder bewusst gemacht, in was für einer Traumgegend ich lebe: alles, was ich hier in Bolivien gefunden habe, haben wir auch in British Columbia. Wir haben riesige Gletscher, steile Gipfel, Wasserfälle und endlose Weiten. Wir haben nicht die extreme Höhe, und leider auch keine Alpaca – aber den Rest habe ich im Prinzip vor meiner Haustür. Und hier kann ich Berge ohne Atemprobleme besteigen 🙂
Ich fliege also mit einer gewissen Trauer, aber auch mit einer grossen Dankbarkeit und Freude zurück. Bolivien war ein ganz besonderes Erlebnis, es hat mich verändert und tiefe Spuren hinterlassen. Danke an Mark und Peter, die alles organisiert haben und so einen Anfänger wie mich mitgenommen haben 🙂 Auf das noch viele weitere tolle Bergerlebnisse auf mich warten.