Eine Besonderheit, die ich an Kanada so sehr mag, ist die Vielfalt der Kulturen und Nationen, die in diesem Land zusammen kommen. Hier leben Menschen von so unterschiedlichen Ländern, mit unterschiedlichen Hautfarben, unterschiedlichen Traditionen und unterschiedlichen Sprachen direkt neben- und miteinander – und damit sind nicht nur “benachbarte Nationen” gemeint, wie wir es in Europa erleben, sondern eine bunte Auswahl der Weltbevölkerung (Indien und Asien sind mit am häufigsten vertreten, viele Europäer, vor allem aus Deutschland, Italien und den UK, aber auch Araber, Russen und Lateinamerikaner).

Das Zusammenleben im Alltag verläuft friedlich; man ist an die kunterbunten Dialekte gewohnt, an die unterschiedlichen Hautfarben – aber nicht immer an die unterschiedlichen Verhaltensweisen. Die verschiedenen Nationen suchen oftmals – völlig menschlich – Ihresgleichen und finden sich in Gruppen zusammen. In Toronto ist dies besonders stark durch die Bezeichnung der einzelnen “neighbourhoods” zu sehen: Little Italy, Little Portugal, Little Russia, Little Norway (und Chinatown gibt es eh in jeder Stadt, das heisst auch hier nicht “little” :-)).

Doch so viel Unterschiedlichkeit auf einem Fleck verursacht auch Spannungen. Natürlich bestehen Vorurteile gegenüber den anderen Rassen, es kommt zu ungerechten Behandlungen, zu Aggressionen, zu Abspaltungen und Verteidigungshaltungen – in diesem Artikel schön beschrieben.

Dennoch finde ich es spannend, bei so einer Vielfalt die Möglichkeit zu haben, ein wenig tiefer in die Unterschiedlichkeit der Nationen einzutauchen und mehr über die einzelnen Hintergründe zu erfahren. In den letzten Tagen hatte ich dazu zwei schöne Erlebnisse dazu:

 

Chinese Immigrants

Zusammen mit Fitore habe ich einen Dokumentationsfilm über die Geschichte der chinesischen Immigranten angeschaut, Lost Years. Der Film wurde durch die Initiative der chinesischen Gemeinschaft in Toronto in einem kleineren Kino vorgeführt. Somit waren Fitore und ich auch einige der sehr wenigen “weissen” Zuschauer im Publikum =). (Interessantes Gefühl, in einer so grossen, englischsprachigen Stadt in einem Kino zu sitzen und plötzlich um sich herum kein Wort mehr zu verstehen).

Der Film zeigte ein wenig die Anfänge der chinesischen Einwanderer Ende des 19. Jahrhunderts. Damals wurden viele chinesische Arbeiter nach Kanada geholt, um als billige Arbeitskräfte für den Bau der Eisenbahnstrecken zu dienen (hm, passierte sicherlich nicht nur mit Chinesen…). Mit der Zeit kam dann die Angst in der Bevölkerung, dass somit zu viele Chinesen nach Kanada kommen konnten (ach, die Angst gab es damals auch schon?) – damals machten Chinesen etwa 10% der Gesamtbevölkerung aus. Kanada durfte kein Einreiseverbot verhängen (gesetzlich war es da abhängig von der britischen Krone), also wurde eine “Kopfsteuer” (head taxes) auferlegt: bis zum Jahr 1910 lag diese bei 500 Dollar pro Person. (Auch dieses System gibt es heute noch – aber nicht nur für Chinesen 🙂 Meine PR war um einiges teurer….).

ChineseLabourers
ChineseLabourers

Kanada war bei den Chinesen aber nach wie vor ein beliebter Ort, um Geld für die Familie zu verdienen; hinzu kam der grosse Goldrausch, der viele Menschen von überall auf der Welt in das wilde Land trieben. Somit nahmen die Chinesen Schulden auf, um die Kopfsteuer zu bezahlen, um dann in jahrelanger Ausbeute zu arbeiten.

Noch heute gibt es eine politische Bewegung, die sich dafür einsetzt, dass die damalige Unschuld, die an den chinesischen Einwanderern begangen wurde, beglichen wird.

HeadTaxes
HeadTaxes

Der Dokumentarfilm war interessant – und gleichzeitig recht einseitig. Ich habe dadurch mehr Verständnis gewinnen können, für mich sind auch die Strukturen von Chinatown und die Verhaltensweisen der Chinesen ein wenig verständlicher geworden; gleichzeitig bleibt aber auch eine grosse Skepsis in mir zurück. Der Film wirkte auf mich auch wie ein grosses Gejammer, eine Klage über die Ungerechtigkeit, die einer einzigen Nation angetan wurde – aber erleben wir nicht tagtäglich Ungerechtigkeiten und dies in so vielen unterschiedlichen Ausprägungen?

 

 

Nunavut, Eskimos und Theater

Besonders reizt mich hier in Kanada die Geschichte der “Ureinwohner”, der Inuits, der “First Nations”. Es gibt so viele unterschiedliche Stämme und somit auch Traditionen und Sprachen, das es schwer fällt, diese Bevölkerungsschicht zu “bestimmen” oder gar mit einem einzigen Namen zu versehen.

Heute abend habe ich an einer Diskussion teilgenommen, wo es um die Biographie eines kanadischen Schriftstellers, Künstlers und Schauspielers ging, Tomson Highway, der seine Wurzeln im hohen Norden dieses Landes hat: Nunavut.

Nunavut ist der grösste “Bundesstaat” (Territorium) in Kanada und gleichzeitig der nördlichste. Dort herrscht das “Eskimo-Leben”, wie wir es uns klischeehaft vorstellen:

Danish sled dogs in Alert, Nunavut
Danish sled dogs in Alert, Nunavut
Nunavut_articvillage
Nunavut_articvillage

 

Als Tomson von seiner Lebensgeschichte erzählte und von dem Ort, an dem er aufgewachsen ist, wurde mir einmal mehr bewusst, wie unendlich riesig dieses Land doch ist. Die wenigsten Kanadier werden jemals in ihrem Leben diesen nordischen Teil ihres Landes kennen lernen. Und obwohl Nunavut zu Kanada gehört, so ist es doch eine ganz eigene Kultur, eigene Sprachen (ja, mehrere, denn es leben unterschiedliche Stämme dort), eine ganz eigene Welt! Faszinierend, oder?

Mich hat dieser Mann mit seiner Geschichte und seinem unglaublichen Humor sehr berührt. Und einer seiner Sätze ist geblieben: es ist wichtig, dass man eine Phase hat, in der man “sich verliert” – damit man sich anschliessend finden kann. Na dann…mach ich mich mal auf die Suche.

TomsonHighway
Tomson Highway – Diskusionsrunde

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