Nach meinen ausführlichen Leidensberichten über meine Jobsuche gibts mal einen Themenwechsel (Abwechslung muss sein) :-): nach nun 3 Wochen in dieser Stadt hier mal ein erstes Sinnieren über Toronto – und seinen Bauwahn.

Toronto ist die grösste Stadt, in der ich bisher gelebt habe, ja, vielleicht die einzige richtige “Stadt”. Mein bisherige Vorstellung von Stadtleben war nie besonders positiv: Städte sind für riesig, laut, voll, hektisch – und vor allem graugraugrau mit ganz wenig Natur. Und Toronto entspricht dem schon ziemlich. Aber eine volle und laute Stadt ist auch bunt und vielfältig, jede Ecke ist wieder anders. Das ist das Schöne daran.

Aber ich glaube schon jetzt zu wissen: im Vergleich zu Vancouver ist Toronto das, was Zürich im Vergleich zu Bern für mich ist. In erster Linie ist es eine Business-Stadt. Nicht mit dem Luxus und der Arroganz, die für mich zu meinem Bild von Zürich gehören; man hört auch viel weniger Hochdeutsch hier =) Vom Ausländeranteil ist es relativ ausgewogen – es gibt sogar extrem viele Quartiere, die nach Nationen benannt sind: Little Italy, Little Portugal, Little Norway, Croatia Street, Indian Street… Vancouver hingegen ist mittlerweile von Asiaten überflutet (die sind in etwa das, was die Deutschen in Zürich sind :-)).

Und auch die Schnelligkeit ist in der Stadt selbst nicht so extrem; der Verkehr hält sich in Grenzen, die Leute hetzen auch nicht auf den Strassen, alles in allem eine wohl eher gelassene Stimmung (doch definitiv schneller als in Bern :-)).

Aber: viele der Menschen, die ich bisher gesehen und auch gesprochen habe, wirken gehetzt und unter Druck. Vielleicht ist es das ständige sich gegenseitig beweisen, das nach oben Streben, der Ãœberlebenskampf in einer Grossstadt, in der er es nun mal extrem viel Konkurrenz gibt. Das habe ich in Vancouver nicht gespürt – und auch in Bern nicht 🙂

Toronto ist eine Stadt, die extrem wächst. Mit den Firmen ziehen auch immer mehr Menschen in diese Stadt – und somit wird auch immer mehr gebaut. So sieht es direkt vor meiner Haustür aus:

Bauwahn
Bauwahn vor meiner Haustür
Construction everywhere
Construction everywhere
Bauwahn
Bauwahn

Und so sieht es in etwa überall in dieser Stadt aus. Es wird gebaut ohne Ende. Aktuell gibt es 239 Bauprojekte in der Stadt! Veranschaulicht wird dies recht schön auf dieser Karte: http://www.thegridto.com/images/Map.html

Bauprojekte

Mein Gebäude ist ja schon etwas “älter” (8-10 Jahre), doch Fitore wohnt in einem dieser Neubauten (trägt den Namen “CityPlace”). Ich bin dazu über einen interessanten Artikel gefunden, der über diesen Bauwahn berichtet. Der Autor ist überzeugt, dass diese Neubauten das neue zukünftige Gettho darstellen – nämlich dann, wenn diese (billig) hochgezogenen Riesenklötze nicht mehr neu, schick und fancy sind, die hippe und junge Crowd weiterzieht und Mittellose den Ersatz darstellen. Der Artikel wurde vor 2 Jahren geschrieben, als diese Hochhäuser gerade gebaut wurden – und wenn ich mir das Bautempo und die Bauqualität anschaue, ist dieses beschrieben Zukunftsbild tatsächlich nicht abwegig: Is CityPlace Toronto’s next gettho?

Mein Hinterhof sieht dafür attraktiver aus:

Mein Hinterhof
Mein Hinterhof

Hier wohnen auch scheinbar Personen mit grossem Nationalstolz, so dass ich weit von einem Little Europe entfernt bin 🙂

Oh Canada
Oh Canada

Ein paar Strassen weiter beginnt dann eine eher typische “Reihenhausgegend”, also recht familiär. Das merkt man unter anderem auch daran, dass die Hunde hier grösser sind 🙂 In Fitores Gebäude gab es jede Menge Hundebesitzer mit so kleinen Viechern, auf die man im Lift immer fast drauftritt, weil die eben so…winzig sind (kann man dazu noch Hund sagen??). In meiner Gegend sind es dann eher die hässlichen Bulldoggen und Breitmaul-Hunde – immer noch nichts, was einen Schönheitspreis gewinnen würde, aber immerhin klingen sie wie normale Hunde.

Reihenhäuser in Toronto haben auch einen anderen Touch als in Vancouver, auf mich wirkt es schon etwas europäischer:

Reihenhäuser
Reihenhäuser
Reihenhäuser
Reihenhäuser
Reihenhäuser
Reihenhäuser

 

Ansonsten folgt Toronto – wie jeder andere Ort auch – dem “Vintage” Trend. Im direkten Zentrum von Toronto herrscht die Banken-, Business- und Krawatten-Welt. Drumherum gibt es aber das bestimmte grösste Hipstermania-Land (hier die Erläuterung zu “Hipster“): ich kann die Schnäuzer, die Leggins, die Hüte und Sonnenbrillen langsam nicht mehr sehen. Und alles ist Vintage! Ich mag Vintage – aber Vintage hier heisst…alt und trotzdem teuer 😛

Vintage Style
Vintage Style – kann wirklich schön sein
Vintage Bike
Vintage Bike – kann wirklich teuer sein 🙂

 

Und schliesslich noch die grünen Ecken von Toronto: es gibt wirklich viele Parkanlagen und Grünflächen; der See direkt vor den Toren der Stadt steuert sein Ãœbriges dazu bei. Das ist schön. Aber längst nicht so wie in Vancouver. Vancouver war wild, unberührt – und man war ziemlich schnell wirklich “draussen”. Hier sind es eben…Parks. Künstlich angelegt. Mit einer bunten Ansammlung von Menschen (Obdachlosen, Drogenabhängigen, Hipstern, Verrückten (laut um sich herum schreiend), Beschäftigten (laut vor sich hintelefonierend), Studenten…).

Park um die Ecke
Park um die Ecke
Natur - in einer Ecke
Natur – in einer Ecke

 

Ja, und da war ja auch noch was: so richtig, echte Natur – dieses idyllische Bild, was jeder immer von Kanada hat, die endlosen Wälder mit Bären, die grossen Seen mit ihren herrlichen Lachsen – also das ist (nach europäischem Entfernungsempfinden) sehr, sehr weit weg. Definitiv nicht mit öffentlichen Verkehrsmitteln zu erreichen. Da müsste man schon ein Auto…und ja genau, einen Führerschein haben.

Also der Führerschein…das wäre meine letzte behördliche Etappe die noch aussteht. Mein Schweizer Führerschein ist genau 60 Tage hier gültig. Bei einem ersten Versuch wollte ich ja meinen kanadischen Führerschein aus Vancouver eintauschen – ging leider nicht, da der schon seit 2 Jahren abgelaufen ist. Bei meinem Versuch No. 2, bei dem ich tatsächlich bereit war, meinen Schweizer Führerschein wieder abzugeben, wurde mir dann gesagt, dass ich diesen erst auf dem Schweizer Konsulat ins Englische übersetzen lassen muss. WHAT??? Sorry, aber: no way. Das Kasperletheater mach ich nicht mit.

Wenn ich jetzt also wirklich die Natur erkunden will…und dazu nicht jemanden Nettes mit Auto finde…dann muss ich Wohl oder Ãœbel meine Führerscheinprüfung hier nochmals absolvieren (nur die Tests, nicht die komplette Ausbildung). Und bei den komischen Verkehrsregeln hier (an Kreuzungen gilt nicht rechts vor links, sondern: wer zuerst kommt, hat recht oder aber: wer zuerst blinzelt beim sich gegenseitig in die Augen schauen, darf fahren – hab die Regel noch immer nicht kapiert) wäre das vielleicht gar nicht verkehrt…

So, das mal zu einem ersten Abriss über diese Stadt. Fühl ich mich wohl hier? Hm. Ich denke, es gibt hier jede Menge Möglichkeiten. Beruflich. Auch für das soziale Netzwerk. Eine Stadt zum Wohlfühlen ist es aber nicht für mich. Dann doch lieber Vancouver.

Und ein kurzes Update zur Jobsuche: mein Zweitgespräch mit der Firma in Ottawa wäre heute beinahe wieder ins Wasser gefallen, hat dann aber in letzter Minute noch geklappt. Das Gespräch hat mir nicht das beste Gefühl vermittelt – aber ich fahre nächste Woche nach Ottawa zu einem persönlichen Kennenlernen. Vielleicht kann ich auch für diese Firma meine Dienste als externer Mitarbeiter anbieten…und ich hätte Kontakt mit Franzosen, wär ja fein!

Und das wird der Fokus für diese Woche werden: persönliche Gespräche suchen und Netzwerk erweitern. Morgen Abend gehe ich auf einen Design-Vortrag, am Mittwoch gehen Fitore und ich mal “aus”, am Donnerstag ist die TEDx-Konferenz und am Freitag gibt es ein weiteres Design-Event, PechaKucha. Yes, hoffentlich lerne ich interessante Menschen kennen und rücke der Community etwas näher. Neben Fitore waren meine intensivsten sozialen Kontakte bislang die mit dem Internet-Fachmann und dem Elektriker, der heute meinen Badezimmerschalter repariert hat. Beide haben mir auch sofort angeboten, mich mal auf ein Bier einzuladen 🙂 Geht also schnell hier mit den sozialen Kontakten…

Zum Abschluss noch etwas Streetart von Toronto:

StreetArt
StreetArt

Und damit allgemein eine frohe Woche euch allen – und eine gute Erholung nach einem intensiven Wahlkampf in Deutschland =)

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