Mich beschĂ€ftigen noch immer die Nachrichten von letzter Woche: Wilson und ich haben abends noch einen kurzen Spaziergang in unserer Nachbarschaft gemacht, als uns ein junger Mann aufgeregt entgegen sprang und schrie: “Da wird gerade jemand erstochen! Echt war, schaus dir auf Social Media an.”

Hier bei uns gibt es so einige schrĂ€ge Typen – und die Sirenen von Feuerwehr und Ambulanzen heulen auch stĂ€ndig. Daher dachten wir uns nicht viel dabei ausser, dass der Junge wohl einen an der Waffel hat.

Aber leider hatte er Recht. Am nÀchsten Morgen konnten wir in der Zeitung von dem Angriff lesen: ein Mann Mitte 30 wurde von einer anderen Person vor einem Starbucks angegriffen und erstochen. Der Auslöser: der Mann bat lediglich darum, dass die andere Person doch bitte nicht direkt vor dem Kinderwagen seiner kleinen Tochter rauchen sollte.

Das an sich ist ja schon unfassbar: da reicht eine einfache Frage und Bitte aus, um jemanden zu einer gewalttÀtigen, nein, mörderischen Handlung zu bewegen.

WĂ€hrend der Typ nun auf sein Opfer einstach, standen Menschen drumherum – ohne jedoch Hilfe zu holen! Ich kann ja noch einigermassen verstehen, dass man bei so einem Vorfall wie gelĂ€hmt ist vor Schock. Aber das war auch nicht unbedingt der Fall. Denn – wie unser Bote am Tag zuvor uns mitteilte – der Überfall wurde gefilmt! Und anschliessend auf Social media veröffentlicht! Statt zu helfen und einzuschreiten steht man also mit seinem Handy daneben und….schaut einfach zu????

Ich finde das alles unbegreiflich. Und so langsam verleiden mir solche Geschichten die Stadt hier.

Vancouver hat extrem mit seinen Obdachlosen und DrogenabhĂ€ngigen zu kĂ€mpfen: wir haben etwa 3.600 Obdachlose (knapp 1000 mehr als Frankfurt, und das bei einer etwas kleineren Bevölkerungszahl). Als ich 2009 zum ersten Mal nach Vancouver kam, waren die Obdachlosen zwar bereits ĂŒberall sichtbar – aber sie waren nicht beĂ€ngstigend.

Nun hört man wöchentlich von Übergriffen und EinbrĂŒchen: im öffentlichen Verkehr werden Menschen wahllos beschimpft, bespuckt und attackiert. GeschĂ€fte und Restaurants in der Innenstadt mĂŒssen reihum ihre TĂŒren vernageln und austauschen, weil wieder einmal eingebrochen wurde. Und wer sein Auto auf der Strasse parkt, wird hier nie lange glĂŒcklich sein, besonders nicht, wenn das Wetter schlecht ist. Die Obdachlosen fĂŒhlen sich sogar im Recht, die Autos der “reichen Schnösel” als SchlafstĂ€tte oder Toilette zu benutzen (meist beides).

Klar, so etwas findet nicht nur in Vancouver statt. Aber so langsam verstehe ich nicht mehr, wieso so wenig getan wird. Statt DrogenabhĂ€ngigkeit zu bekĂ€mpfen, werden Drogenstationen gebaut, um “saubere Drogen” zu verteilen. Statt UnterstĂŒtzung und Integrationsprogramm zu erstellen fĂŒr Obdachlose, wird in den Bau von HochhĂ€usern investiert, die jeweils klitzekleine Wohnungen haben zu einem unermesslichen Preis.

Und anstatt dass wir uns als Gesellschaft unterstĂŒtzen, uns gegenseitig beistehen und helfen werden wir zur gefĂŒhls- und gedankenlosen Beobachtern, denen es lediglich um die eigene Aufmerksamkeit geht.

Ich weiss noch nicht, was ich mit diesen Gedanken anstelle…aber meine anfĂ€ngliche Begeisterung fĂŒr Vancouver lĂ€sst in grossen Schritten nach.

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